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Tag 0: Weinen, Lachen, Abschied

Mein letzter Abend in Taiwan war fantastisch, er hätte besser nicht sein können. Wobei, ich muss mich korrigieren: mein neuer letzter Abend war fantastisch. An meinem eigentlich letzten Abend, dem 31. März 2015, lag ich mit Schmerzen in meinem Bett und vertrieb mir die Zeit mit meinem Teddybär. Nachdem ununterbrochener Regen in der vorherigen Woche Taipeh – und leider auch mich – unter Wasser gesetzt hatte, hatte ich mir erst eine Grippe und im Zuge dessen eine Mittelohrentzündung zugezogen. Am ersten April hatte zwar eine Palette chemischer Medikamente mich wieder weites gehend hergestellt, aber ich war noch immer in keiner Lage für einen interkontinentalen Flug. An dem Tag, an dem ich eigentlich im Kreis meiner Familie den Geburtstagskuchen meiner Schwester hätte essen sollen, am zweiten April, lag ich immer noch in meinem Bett in Taipeh und weinte zusammen mit meinem Bär vor Heimweh. 

Zum Glück war es unkompliziert, meinen Flug zu verschieben, und mein neues Rückkehrdatum war der fünfte April, sodass ich am sechsten April rechtzeitig vor meiner Abreise zu einer Konferenz nach Budapest am achten April zurück war.

Gemeinsam mit meiner Gesundheit berappelte sich auch das Wetter und als mir der Sinn endlich wieder danach stand, mein Bett zu verlassen, herrschte draußen bestes Sommerwetter, von Regen keine Spur. Die Tage waren heiß und schwül und die Abende lau und angenehm, am Freitag glühte der Blutmond am Himmel, ein großer, feuerroter Vollmond, der jeden, der ihn sah, automatisch in seinen Bann zog. Ich spazierte in Sommerkleidern durch die geschäftigen Straßen und war glücklich, ich saß mit Freunden in den kleinen Stadtteil-Parks, beobachtete Tai-Chi-Gruppen und spielende Kinder und trank erfrischenden Tee. Ich wunderte mich über die Design-Studentinnen, die von meinem langweiligen Sneaker-Jeans-Shirt-Schal-Outfit Streetlook-Fotos machen wollten, aber gleichzeitig freute ich mich auch. Ich aß alles Essen, das mir fehlen würde noch einmal und lernte zu guter Letzt auch noch, wie ich meine Lieblingsspeisen selbst kochen konnte (zu dem Gratis Kochkurs gab es gleich noch die entsprechenden Zutaten zum Exportieren). Ich genoss die warmen Tage, die Hektik, das Chaos, die Aufmerksamkeit und begegnete jeden Tag neuen Menschen, die ich gerne besser kennen gelernt hätte. „Wie schade, dass du ausgerechnet jetzt zurück fliegst“, ist der Satz, der mich in den letzten Tagen und Wochen in Taipeh täglich begleitet hat.

Die letzten (gesunden) Tage in Taipeh waren entspannt und ich hatte sie nur für mich. Mein Mitbewohner war in den Süden des Landes gereist und ich hatte mich von allen Freundinnen und Freunden teils unter Tränen verabschiedet. Es kam mir komisch vor, erneut auf Wiedersehen zu sagen und so behielt ich es für mich, dass ich noch im Lande war. Ich saß für mich allein an meinen liebsten Orten und abends traf ich mich in meinen Stammkneipen mit den Bekannten, die dort ohnehin herumlungerten.

An meinem letzten Abend entschied ich mich dagegen, eine große Party zu schmeißen und dafür, die Nacht mit einem Freund in der Bar zu verbringen, die er am Abend zuvor eröffnet hatte. Ich war schon aus irgendeinem Grund den ganzen Tag über spontan Menschen begegnet, die ich teils lang nicht mehr gesehen hatte und das setzte sich an diesem Abend fort, sodass ich ununterbrochen von einem Tisch zum nächsten sprang und hier und da Bekannten begegnete, neue Kontakte schloss und nebenher noch meine Billiardfähigkeiten vertiefte und sogar gewann (dazu muss ich sagen, dass Nüchternheit einen großen Vorteil beim Billiardspielen um Mitternacht in einer Bar bringt). Meine wohl beste taiwanische Freundin, die eine erhebliche Rolle dabei spielt, dass ich Taiwan so sehr schätzen gelernt und mit Leichtigkeit eine neue Heimat gefunden habe, kam vorbei und wir verbrachten geraume Zeit damit, das perfekte Selfie zu schießen (wir waren ziemlich erfolgreich). Alles war perfekt. Ich bin sicher, dass ich mit einem Lächeln auf den Lippen einschlief.

Das Schönste an meinem letzten Abend war allerdings, dass der Abend selbst nicht mein Abschied von Taiwan war. Da mein Flug am Sonntagabend erst kurz vor Mitternacht ging, blieb mir der ganze Tag, um endgültig Abschied zu nehmen. Und das war gar nicht leicht.

Der fünfte April war ein traumhafter Tag. Die Hitze war nicht so drückend, wie an dem Tag zuvor und es war ein wunderschöner, entspannter Sonntag, der alle Menschen nach draußen und dort in die zahlreichen Parks lockte. Ich kaufte mit einem Freund und seinen brasilianischen Freunden aus Studienzeiten einen Grill und alles, was sie später über die Flammen legen wollten (und mit dem sie später die halbe Nachbarschaft und die Feuerwehr auf den Plan riefen, weil Balkon-Barbecues in Taipei nicht gerade an der Tagesordnung sind) und dann saßen wir für den Rest des Tages in meinem geliebten Daan Park, wo ich vor über einem Jahr schon stundenlang gesessen und mich in seichte Literatur vertieft hatte. Hinter uns dehnten philippinische Altenpflegerinnen Arme und Beine der alten Taiwanesen in ihren Rollstühlen, vor uns picknickte eine Großfamilie mit Kind und Kegel im Gras und neben uns turnte eine Gruppe von Jungs und probte stundenlang die gleichen Bewegungen. Es war wie immer, wie all die vielen Sonntage, die ich in diesem Park im Gras gelegen und das Treiben um mich herum beobachtet habe. Meine Freunde unterhielten sich auf Portugiesisch, ich saß daneben, lernte aus Gewohnheit meine täglichen Vokabeln und ließ die Umgebung auf mich wirken, winkte von Zeit zu Zeit Bekannten zu oder lief für einen kurzen Schwatz über das Gras zu ihnen. Ich spazierte einmal um den Teich, lockte mit einer aufgespießten Kirsche schwarze Eichhörnchen aus den in sich verknoteten Bäumen und beobachtete alte Männer, die Vögel beobachteten. Je später es wurde, und je ruhiger die warme Atmosphäre um mich herum wurde, desto trauriger wurde ich. Ich hatte den Großteil des Tages lachend und tänzelnd verbracht, jetzt liefen mir die Tränen hinunter, ob ich wollte oder nicht. Ich aß meine Henkersmahlzeit beim vegetarischen Buffet, verabschiedete mich von dem Freund, von dem der Abschied am schwersten war und machte mich voller Sorge darüber, dass es Probleme mit meinem Gepäck geben würde, auf zum Flughafen. Im Taxi weinte ich weiter. Taipei leuchtete und strahlte in der Dunkelheit, ich drehte mich nach dem Taipei 101 um, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte und erinnerte mich, wie ich ihn im Januar 2014 das erste Mal gesehen hatte und verwundert war, weil ich von allem, das ich nicht erwartet hatte, einen derartig beeindruckenden Wolkenkratzer am wenigsten erwartet hätte.

Ein deutscher Freund, den ich im Juli wiedersehen werde, begleitete mich an den Flughafen und nachdem ich reibungslos eingecheckt war, verflog meine Trauer und wir schwätzten noch ein bisschen, bis er zurück in die Stadt fuhr und ich mich zu meinem Gate bewegte. Plötzlich ging alles ganz schnell. Ich war zwar 40 Minuten vor Start am Gate, aber es gab schon keine Schlange mehr und ehe ich mich versah, war ich im Flieger, wir starteten, Taipeh verschwand, das Essen war okay, die Lichter gingen aus, ein Sternenhimmel leuchtete an den Decken auf und ich schlief bis zum Frühstück. Ich betrachtete den Sonnenaufgang in Dubai und wunderte mich wie schon bei meinem letzten Flug darüber, dass es kein kostenloses Wifi an einem derartig schicken und modernen Flughafen gibt. Ich war vorfreudig und aufgeregt, der zweite Flug – noch einmal sieben Stunden – vergingen flott und plötzlich war ich fast zurück. Es war ein wunderschöner Tag, strahlend blauer Himmel, einige Federwolken. Ich trat aus dem Flieger und wurde von den Temperaturen schockgefroren. Ich war in Hamburg, ich war in Deutschland, in Europa – ich war zurück, es war real. Ich kämpfte mit den Tränen und verlor. Ich war müde und wollte zurück, mir war kalt und ich sah durch einen Tränenschleier alles doppelt. Menschen, die mich auf Deutsch anquatschten, verwirrten mich, entschuldigten sich und fragten noch einmal auf Englisch nach.

Doch eine halbe Stunde später, nachdem ich mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet und tief durchgeatmet hatte, wusste ich, warum ich zurück war: ich konnte nach sieben Monaten endlich meine Familie und noch dazu einen Überraschungsgast – einen guten Freund – in die Arme schließen.

Noch bin ich in meinem Jetlag gefangen, aber ich stehe ohnehin gerne früh auf. Ich habe auch noch nicht vollends realisiert, dass ich zurück bin. Für immer. Oder zumindest für die nächste Zeit. Ein Freund, der bereits im Januar zurückgekommen ist, versprach mir, dass der Trennungsschmerz nach zwei Wochen nachlässt. Das mag jetzt klingen, als wenn ich über meine Rückkehr nicht glücklich bin, das ist nicht wahr. Ich wünschte nur, Taiwan wäre nicht ganz so weit weg, nicht ganz so unerreichbar und nicht ganz genau das, was ich jetzt gerade will und brauche und mag.

April 2015

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