Blog, Unterwegs

Freude am Herbst

oder: Warum die Heimat aus der Ferne so romantisch erscheint

Es ist Herbst in Berlin. Nachdem sich der Sommer Ende August noch einmal richtig ins Zeug gelegt hatte, kündigte sich der Herbst seit Anfang September an. Der Wind wurde schneidiger, die Sonne fahler, die Jacken dicker und die Schals wurden eng geschnürt. dsc04028Wie es sich gehört, färbten sich die Bäume bunt und die Coffeeshops mischten wieder Pumpkin Spice in ihren Kaffee. Bei den Überresten der Berliner Mauer, die internationale Künstlerinnen und Künstler mit ihren Botschaften verziert hatten, fragte mich ein amerikanischer Reisender, was Heimat für mich bedeute. Ich hielt das Gesicht in den Wind und sagte „das Wetter“. „Das Wetter?“, fragte er. „Den Wind, den Sturm und die Regenluft“, sagte ich und er schaute mich an, als wenn ich nicht alle Tassen im Schrank hätte. Er kam aus Kalifornien.

Er hatte mich immerhin gefragt, was ich mit Heimat assoziieren würde, nicht, was mir an meiner Heimat besonders läge. Ich liebe Regen, Wind und Kälte – in der richtigen Dosierung. Als ich im Frühjahr aus Taiwan wieder kam, war an der Nordsee immer noch Winter, jedenfalls fühlte es sich so an. Ich stieg aus meinem Flieger und es war kalt. Es wehte eine frische Brise, die mich frösteln ließ, aber dennoch sehr glücklich machte. Einen solchen Wind hatte ich lange nicht gefühlt, nicht gerochen – ich war wieder zu Hause. Die nächsten sechs Wochen hatte ich Schnupfen.

Egal, wo ich bisher gelebt habe, die Luft meiner Heimat fehlt mir immer am meisten, vielleicht weil es etwas ist, was ich selbst aus Teufel-Komm-Raus nicht exportieren kann. Wo ich aufgewachsen bin, ist Windstille die Ausnahme. Überall sonst ist der erfrischende Lufthauch das Ungewohnte. Der prasselnde Regen. Der Sturm. Der graue Himmel.

In dem Jahr, in dem ich in Krakau lebte, begann der Sommer im April. Es war traumhaft, aber doch ungewohnt und ich sehnte mich nach einem unbeständigen Frühlingsbeginn. Im Juni regnete es eine Woche durch. Alle fluchten. Ich war glücklich. Die ganze Altstadt stand unter Wasser. Ich tänzelte durch den Regen, sprang über Pfützen und schwamm beseelt durch das Nass. Ich ließ mich gerne für verrückt erklären. „Es fühlt sich an wie daheim“, erklärte ich beseelt und erntete mitleidige Blicke.

Die Regenpause dauerte eine Woche, dann kehrte der Sommer zurück. Ich zog wieder nach Oldenburg. Es regnete. Ich bemerkte, dass Heimweh absurd ist: plötzlich stimmten mich Regen und Wind alles andere als glücklich. Ich hatte mich monatelang nach etwas verzehrt, wovon ich nach ein paar Stunden plötzlich zu viel hatte.

Herbst in Berlin fühlt sich herrlich an. Es ist nicht mehr stickig und das Haar wird zerzaust und nicht verschwitzt. Bunte Regenschirme tanzen durch die Stadt und der Wind zerrt an den Bäumen, die langsam ihre Blätter zu Boden werfen.Das Wetter bringt die Menschen zusammen, die gemeinsam im Fahrstuhl und der Bahn fluchen. Die Saison für Kakao und faule Abende wird wieder eröffnet.

Ich werde die Kälte und das ungemütliche Grau genießen, solange ich hier bleibe. Denn erfahrungsgemäß schwindet mit der Rückkehr auch die Romantik der Heimat.

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