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Unterwegs in Polen: Wroclaw

Wroclaw ist eine Stadt im Südwesten von Polen, die ihre Nationalität nach dem zweiten Weltkrieg wechselte und – wie alle polnischen Städte – ein bewegtes 20. Jahrhundert erlebt hat. Im Jahr 2016 wurden mehr europäische Touristen auf Wroclaw aufmerksam, da die Stadt als Europäische Kulturhauptstadt mit einem tollen Kulturangebot lockte. „Der Titel „Kulturhauptstadt Europas“ verpflichtet und birgt Chancen“, meint ein Reiseführer von Dumont. „Breslau hat seine Pflichten ernst genommen – und seine Chancen gut genutzt, weit über das Jahr 2016 hinaus.“ So ist es der Stadt dieses Jahr u.a gelungen, zur „European Destination 2018“ gekührt zu werden. Was macht die Stadt so sehenswert?

Das alte Rathaus aus dem 13. Jahrhundert

Wenn eine Stadt leicht mein Herz erobern will, dann ist das im Grunde nicht so schwer. Ich beurteile die Qualität einer Stadt an verschiedenen Faktoren, dazu gehören 1) die Auswahl an unabhängigen Cafés und Kneipen, 2) das Sortiment nichtalkoholischer Getränke in diesen Cafés und Kneipen, 3) die Erschwinglichkeit von Hostels bzw. die Möglichkeit, Couchsurfing zu nutzen und 4) das gewisse Etwas. Wroclaw gewinnt auf ganzer Linie.

Da die eigentlich recht verlässliche polnische Bahn auf unserer Reise von Krakow nach Wroclaw plötzlich unerwarteterweise doch ein bisschen aus der Bahn kam, erreichten wir die Stadt erst in den frühen Abendstunden – und nicht wie geplant am frühen Nachmittag. Immerhin hatten wir auf diese Art Gelegenheit, das Bordbistro auszuprobieren, was an sich schon eine wundervolle Erfahrung war. Vor unseren Augen wurde frischer Camembert paniert, frittiert und dann mit einem Salat angerichtet. All das zu Preisen, zu denen ich im deutschen ICE vielleicht einen Kaffee für kaufen könnte.

Der Hauptbahnhof von Wroclaw

Außerdem erlebten wir so unseren ersten Eindruck der Stadt bei Nacht. Und das ist wahrlich ein prächtiger Anblick! Der Bahnhof gleicht einer kleinen Burganlage, schön beleuchtet sind die kleinen Zinnen und Türmchen. Im Handumdrehen ist man in der historischen Innenstadt. Wir wurden direkt von einer Gruppe strenggläubiger Christen in Empfang genommen, die sich mit mir über die Liebe Gottes unterhalten wollten. Da sind sie nun bei mir nicht an der besten Adresse, noch dazu im Lichte der jüngsten Ereignisse in Polen, wo Religion genutzt wird um Nationalismus zu rechtfertigen. Aber wir ließen uns davon den Abend nicht trüben und genossen einen abendlichen Spaziergang über den historischen Marktplatz.

Hier in Wroclaw trügt der Schein: Die Gebäude rund um das Rathaus sind nur zum Teil Überbleibsel vergangener Zeiten. Ein Großteil der Häuser wurde zum Ende des Weltkrieges zerstört, als die „Festung Wroclaw“ gegenüber der Roten Armee die Kapitulation bis zum 6. April 1945 verweigerte. Grundsätzlich gilt die Regel: Je mehr Stuck außen an der Fassade klebt, desto höher die Wahrscheinlichkeit vor einem Original zu stehen!

Das Rathaus selbst, Wahrzeichen der Stadt, hat den zweiten Weltkrieg weitestgehend unbeschadet überstanden und trotzt so seit 700 Jahren dem Wandel der Geschichte.

Vor dem zweiten Weltkrieg, als Wroclaw noch Breslau hieß und zu Deutschland gehörte, ging es der Stadt nicht sehr gut. Hier wurde – angeblich – fabelhaftes Bier gebraut (Craft Beer lovers aufgepasst: Diese Tradition wird auch heute fortgesetzt) und aus dieser Stadt stammt das futuristische Warenhaus Wertheim, heute Renoma, das den Trend der Kaufhäuser in der Stadt begann (heute gibt es in keiner polnischen Stadt mehr Kaufhäuser als in Wroclaw). Doch die Stadt, in direkter Nähe zu Polen, litt unter den schwierigen Beziehungen zwischen Polen und Deutschland zu der Zeit, die auch direkte Auswirkungen auf den Handel hatten. Die Arbeitslosigkeit war hoch und die Nazis hatten keine Mühe, hier Fuß zu fassen. Breslau hatte vor dem Krieg die drittgrößte jüdische Gemeinde in Deutschland, die mit dem Novemberpogrom 1938 endgültig ihre kulturellen und religiösen Tätigkeiten aufgeben musste. Fast alle Juden, die nicht vorher geflohen waren, wurden in verschiedene Konzentrationslager deportiert, wo die überwältigende Mehrheit von Ihnen starb. Im Rahmen der Kulturhauptstadt wurde auch dieser Teil der Geschichte durch Austellungen, Filme und Veranstaltungen aufgearbeitet.

Im 2. Weltkrieg war Breslau die ersten Jahre abseits vom Kriegsgeschehen, erst im Januar 1945 wurde die „Festung Breslau“ ausgerufen. Hier sollte das strategische Zentrum sein, um die Oder-Linie zu verteidigen. Als die Situation immer aussichtsloser wurde, wurde erfolglos eine Evakuierung der Stadt angeordnet. Bei einem Fußmarsch im Tiefschnee kamen Tausende um. Jeder, der in der Stadt blieb und kämpfen konnte, wurde zum Kämpfen gezwungen. Anfang April 1945 wurde dann die Stadt zerbombt, über 2/3 der Gebäude waren zerstört. 4 Tage nach Berlin kapitulierte die Stadt. Als Schlesien dann an Polen gegeben wurde (wofür Polen im Osten flächenmäßig viel größere Gebiete verlor, als wenn es im Krieg nicht schon genug verloren hätte), wurde quasi über Nacht die Bevölkerung ausgetauscht. Die deutsche Bevölkerung floh nach Deutschland und in der Stadt wurden Polen aus den verlorenen Ostgebieten angesiedelt. Lange Zeit entwickelte die Bevölkerung Wroclaws keine wirkliche Bindung mit der Stadt. Die deutsche Vergangenheit wollte man nicht erinnern.

Hier standen ehemals Häuser mit reichen, bunten Fassaden. Nach dem 2. Weltkrieg reichte das Baumaterial nicht einmal mehr für Balkone.

„Wroclaw ist ein gutes Beispiel, wie sinnlos Krieg ist“, sagte der Tourguide unserer Free Walking Tour, als wir auf einem offenen Platz standen, umgeben von hässlichen, sowjetischen Plattenbauten. „Hier sah es früher genau so aus, wie auf dem Marktplatz. Und jetzt gucken Sie, was wir hier haben: Die Gebäude haben nicht einmal fertige Balkone.“

Wir hatten uns dazu entschlossen, eine Stadtführung auf Deutsch zu machen. Die Geschichte bedrückte uns, auch wenn wir nichts neues lernten. Da es abends viel zu kalt war, um etwas zu unternehmen, beschlossen wir, nach einem Tag voller Geschichte, auch den Abend dem zweiten Weltkrieg zu widmen und besuchten den neuen Churchill-Film „Die dunkelste Stunde.“ Nach all dem, was Europa durchgemacht hat – wie ist es da für Menschen nur möglich, den Lügen des Nationalismus aufs Neue zu verfallen?

Wer allerdings Wroclaw bereisen möchte, ohne über Geschichte nachzudenken, der mache sich keine Sorgen. Ich finde es zwar etwas verwerflich, aber man kann die Stadt auch genießen und dabei die düstere Geschichte ganz aussparen.

Die Brücke zum Dom, behängt mit der Liebe junger Paare

Zum Beispiel kann man es sich im ehemals jüdischen Viertel gut gehen lassen, wo heute das Leben wieder blüht. Sei es bei dröhnender Musik in Kneipen und Clubs oder bei fantastischen Tee-Kreationen in den vielen Cafés. Besonders haben wir ein ausgiebiges Frühstück im Restaurant „Szynkarnia“ genossen.

es war sehr kalt!

Man kann aber auch einfach über Brücken und durch Straßen spazieren, die Seele baumeln lassen, sein Liebesschloss in die Masse der anderen an ein Brückengeländer hängen (wir sind dafür nicht romantisch genug) und die Stadt auf sich wirken lassen. Aufgrund der Minusgrade spazierten wir immer nur so lang, bis wir unsere Füße nicht mehr spürten, und setzten uns dann wieder in ein Café, aber ich stelle mir die Stadt bei wärmeren Temperaturen (wenn man zum Beispiel auch den Park und japanischen Garten rund um die UNESCO-Jahrhunderthalle genießen kann), ganz wunderbar vor.

Die Jahrhunderthalle ist das einizige UNESCO Kulturerbe der Stadt und wurde anfangs des 20. Jahrhundert errichtet.

Und dabei, und das ist überhaupt der größte Spaß, kann man Zwerge zählen. Ganz genau, Zwerge. Inzwischen über 300 solcher Kreaturen gibt es, verteilt in der ganzen Stadt. Wir haben immerhin 60 gefunden. An ein bisschen Street Art erfreue ich mich immer. Aber warum Zwerge?

In den 1980er-Jahren, als die Solidarnosc-Bewegung in Polen laut wurde, gab es in Wroclaw die „Orange Alternative“. Diese Oppositionskämpfer hinterließen politische Graffitis in der ganzen Stadt, die stets von einem oder mehreren Zwergen begleitet waren. Sie demonstrierten auch verkleidet als Zwerge. Aus einem Projekt von Kunststudierenden 2001 entstand schließlich die Idee, die Zwerke zum Wahrzeichen der Stadt zu machen – und der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. In den Reiseführern steht, dass das Zwergesuchen eine super Beschäftigung für Kinder ist. Und eindeutig auch für das Kind in mir.

Über Wroclaw könnte ich noch Seiten schreiben: über Geschichte, Kultur, all die stattfindenden Festivals und über die grundsätzliche Atmosphäre. Aber ich möchte es hierbei belassen und alle einladen, sich selbst ein Bild der Stadt zu machen – und dabei auch die bittere Geschichte nicht auszusparen.

Ich auf jeden Fall freue mich schon auf den nächsten Besuch in Wroclaw und auf weitere Besuche in Schlesien, denn dort gibt es noch viel zu entdecken!

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